Nachgefragt bei... Géraldine Pflieger
Im vergangenen November fand die 29. Klimakonferenz der Vereinten Nationen (COP29) in Baku, Aserbaidschan, statt. Zur Schweizer Delegation gehörte Géraldine Pflieger, welche als Vertretung der Wissenschaft an den Verhandlungen teilnahm. Sie ist Professorin für Stadt- und Umweltpolitik an der Universität Genf. Nach der Konferenz konnten wir uns mit Géraldine Pflieger unterhalten. Im Interview gibt sie eine wissenschaftliche Einschätzung zu den Entscheidungen ab, die an der COP29 (nicht) getroffen wurden.
Kislig: Professorin Pflieger, Sie haben an COP29 in Baku teilgenommen. Welche Aspekte der Verhandlungen stimmen Sie optimistisch für die Zukunft und welche eher pessimistisch?
Pflieger: Die Entscheidung in Baku gibt nicht viel Anlass zu Optimismus. Der komplizierte Prozess der COP-Verhandlungen, die heikle geopolitische Lage und die bestehenden globalen Spannungen verunmöglichen jeden ernsthaften Fortschritt. Immerhin wurde ein erster Schritt gemacht, indem die Unterstützung und Finanzierung für die Entwicklungsländer von 100 auf 300 Milliarden Dollar erhöht wurden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber definitiv ein Kompromiss. Mit der Austrittsankündigung der USA aus dem Pariser Abkommen war das wohl der Höchstbetrag, der die derzeitigen Beitragszahlenden (Schweiz, EU, Australien, Kanada und Japan) zu geben bereit waren.
Wichtiger als die Frage, wie viel Geld insgesamt bereitgestellt wird, ist jedoch die Diskussion über eine neue Finanzierungsstrategie. So kamen Themen auf wie der faire Zugang zu Klimafonds für die am wenigsten entwickelten Länder, die konkretere Einbeziehung privater Finanzmittel bei der Gestaltung von Klimafinanzierungsmechanismen sowie die Umlenkung bestehender Investitionen von fossilen Brennstoffen in erneuerbare Energien. Ebenso kam die Frage auf, ob die Gruppe der Geberländer auf grosse Emittenten wie beispielsweise China und ölproduzierende Länder ausgeweitet werden soll.
Viel besorgniserregender als die bereits genannten Punkte finde ich die äusserst schwachen Ergebnisse bei der Eindämmung des Klimawandels und die mangelnde Ambition in den damit verbundenen Zielsetzungen. Im Vergleich zur COP28 wurden an der COP29 keine Fortschritte bei diesen Fragen gemacht. Alle Entscheidungen wurden blockiert, und es gab sogar Versuche, die Sprache und den Diskurs über den Ausstieg aus und die Abkehr von fossilen Brennstoffen herunterzuspielen – vor allem von ölproduzierenden Ländern. Das ist ein grosses Problem, denn in den kommenden Monaten werden wir die neuen Nationally Determined Contributions (NDCs) bewerten, die von den verschiedenen Ländern, die Teil des Pariser Abkommens sind, vorgelegt werden. Es ist ärgerlich, dass wir neue NDCs haben werden, ohne eine klare Aufforderung an der COP29 formuliert zu haben, die die verschiedenen Parteien dazu ermutigt, ihr Ambitionsniveau zu erhöhen.
Dies ist nicht das erste Mal, dass eine COP keine Ergebnisse bringt. Das ist in der Vergangenheit schon mehrmals vorgekommen. Es sollte jedoch nicht als das Ende des Multilateralismus verstanden werden: Ich bin überzeugt, dass diese Art von internationaler Zusammenarbeit der Schlüssel ist, um sicherzustellen, dass die verschiedenen Länder mindestens weiterhin im Austausch bleiben und sich auf ein gemeinsames Ziel zubewegen. Aber dieses Scheitern hinterlässt einen starken Druck auf die Agenda der nächsten COP zu diesen spezifischen Themen, besonders, um die an der COP29 begonnene Finanzierungsstrategie weiterzuentwickeln.
K: Sie haben erwähnt, dass einige Verhandlungen blockiert wurden. Zu diesem Thema wurde ein offener Brief vom Club of Rome veröffentlicht, der unter anderem vom ehemaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon und dem renommierten Wissenschaftler Johan Rockström unterzeichnet wurde. Darin wird ein Überdenken der COP und ihrer derzeitigen Arbeitsweise gefordert. Was ist Ihre Meinung dazu?
P: Als Wissenschaftlerin und Teilnehmerin mehrerer COPs stimme ich allen Punkten des offenen Briefes des Club of Rome zu. Es sehr wichtig, das Format der COP kritisch zu hinterfragen, da ihre derzeitige Struktur und Grösse es oft erschweren, mutige und ehrgeizige Entscheidungen effektiv und effizient zu treffen. Es muss uns dabei aber bewusst sein, dass all diese organisatorischen Aspekte auch verhandelt werden müssen. Auch in Baku gab es mehrere Verhandlungsprozesse, in denen organisatorische Aspekte der COP diskutiert wurden. Aber wie bei jedem anderen Thema war es auch hier nicht möglich, eine Einigung zu erzielen. Es ist also nicht so, dass die Teilnehmenden der COP nicht über diese Probleme Bescheid wüssten, und der Club of Rome der Erste war, der sie darüber aufklärte und die Widersprüche des derzeitigen Prozesses aufzeigte. Ich denke, dass es viele Delegierte und Expertinnen und Experten gibt, die sich der strukturellen Probleme bewusst sind. Aber auch hier besteht weiterhin eine Blockadesituation.
K: Ein weiteres grosses Thema während dieser COP war die Tatsache, dass mehrere Staats- und Regierungschefs von Schlüsselländern der COP fernblieben. Welche Faktoren haben Ihrer Meinung nach zu diesem Phänomen geführt?
P: Wenn jedes Land beschliessen würde, die COP zu boykottieren, profitierten die ölproduzierenden Länder am meisten davon. Die Entscheidung Papua-Neuguineas, als eines der ersten Länder die COP zu boykottieren, ist durchaus gerechtfertigt und kann sogar als Verhandlungsstrategie angesehen werden: Sie senden eine klare Botschaft, indem sie sich vorübergehend aus dem Prozess heraushalten.
Einige Politikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler weisen darauf hin, dass wir Initiativen vermehrt auf städtischer, lokaler oder regionaler Ebene vorantreiben müssen. Aber letztendlich müssen wir eine auch eine Bestandsaufnahme machen, was all diese Initiativen kumuliert bewirken. Reichen sie, um unsere planetaren Krisen, namentlich das ansteigende Temperaturniveau und das verbleibenden Kohlenstoffbudget, unter Kontrolle zu kriegen? Diese Art der Bestandsaufnahme, die Überprüfung der Einhaltung der gemeinsamen Ziele und deren Neudefinition, ist das wichtigste und fast einzige Ziel des Multilateralismus. Dazu kommt die gemeinsame Suche nach Unterstützungsmöglichkeiten und Solidarität, sowie deren Finanzierung und Mittel zur Umsetzung.
K: Was bedeuten die Entscheidungen, die an der COP29 getroffen wurden, konkret für die Schweiz?
P: Um das klarzustellen: Ich bin keine Finanzexpertin und konzentriere mich hauptsächlich auf den Klimaschutz und seine Verbindung zur Wissenschaft. Aber normalerweise basieren die länderspezifischen Beiträge zur Gesamtfinanzierung auf dem Weltbevölkerungsanteil eines Landes oder dessen Anteil an den globalen Emissionen. Als Wissenschaftlerin würde ich sagen, dass dieses 300-Milliarden-Dollar-Ziel ziemlich vage ist, weil es nicht klar definiert, wo die Grenze zwischen Zuschüssen, Schuldtiteln und sogar privater Finanzierung verläuft. Es lässt Raum für Interpretation und es wird eine Aufgabe der Forschung sein, zu verstehen, wie es umgesetzt werden soll und ob es die globale Klimafinanzierung wirklich ankurbeln kann und wird.
Was den Klimaschutz betrifft, so befinden sich die Schweizer NDCs derzeit in der Konsultationsphase und werden in den kommenden Wochen validiert. Ich glaube nicht, dass sie aufgrund der Ergebnisse der COP29 geändert werden. Die Schweizer Regierung hat klar ihre Bereitschaft signalisiert, konsequent die Ziele des IPCC und des Pariser Abkommens zu verfolgen.
K: Noch eine letzte Frage: In Ihrem letzten Interview mit uns erwähnten Sie das Potenzial der Schweiz, eine Vorreiterinnenrolle bei der Multi-Level-Governance zu Klimafragen einzunehmen. Glauben Sie, dass die Schweiz diese Rolle mittlerweile einnimmt? Falls nicht, was müsste sich ändern?
P: Tatsächlich hat die Schweiz aufgrund ihrer föderalistischen Struktur einen grossen Vorteil. Diese Struktur ermöglicht es dem Land nämlich theoretisch, politische Massnahmen auf verschiedenen Ebenen optimal umzusetzen. Die Schweiz könnte mit gutem Beispiel vorangehen, beispielsweise mit einer interkantonalen Zusammenarbeit: Sie könnte aufzeigen, welches die besten Massnahmen und Umsetzungen in einem bestimmten Kanton sind, und diese Erfahrungen von einem Kanton zum anderen weitergeben. Oder der Bund könnte enger mit den verschiedenen Sektoren zusammenarbeiten, um konkrete Massnahmen umzusetzen, und nicht nur Ziele zu definieren. Aber wir nutzen das gesamte Potenzial des Föderalismus nicht aus. Wenn ich etwas ändern könnte, würde ich Instrumente und institutionelle Vehikel einführen, um eine viel stärkere Harmonisierung zu schaffen. Dies würde die Dynamik eines «Race to the Top» sehr stark fördern: Dieser beschreibt einen positiven Wettbewerb, bei dem verschiedene Kantone, Gemeinden, Städte und Sektoren danach streben, bei ehrgeizigen Klimamassnahmen führend zu sein, indem sie striktere politische Massnahmen, innovative Technologien und ehrgeizige Emissionsreduktionsziele einführen. Aber dazu fehlt momentan noch die vertikale Integration der Regierungsebenen. Wäre dies nicht der Fall, könnten wir wirklich ein Labor für die Umsetzung von Klimaschutzmassnahmen auf mehreren Ebenen, der sogenannten Multi-Level-Governance, sein.
K: Vielen Dank für dieses spannende Gespräch und die aufschlussreichen Antworten.