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Das Klima ist eine von vielen Herausforderungen

ProClim Flash 78

Das Ernährungssystem besteht aus vielen zusammenhängenden ökologischen, sozialen und ökonomischen Komponenten. Weniger tierische Proteine, weniger Food Waste und eine auf agrarökologische Prinzipien beruhende Produktion: Das könnte die menschliche Gesundheit stärken und das Klima schonen.

Verkäufer am St. José Slow Food Market in Rio de Janeiro: Die Expertinnen und Experten legen grosses Gewicht auf die Gesundheit der Menschen und auf den Einbezug des gesamten Ernährungssystems von der Produktion bis zum Konsum.
Bild: FAO/Giuseppe Bizzarri

Text: , Plattform Wissenschaft und Politik der SCNAT

Die Ernährungssysteme müssen transformiert werden: Das ist sowohl auf lokaler wie auf globaler Ebene erkannt. Die Hauptgründe für die Transformation sind international betrachtet allerdings unterschiedlich. Der Klimawandel ist dabei nur eine von vielen Herausforderungen. Angestrebt werden insbesondere die Bekämpfung von Hunger, Mangelernährung und Fehlernährung oder die Reduktion des ökologischen Fussabdrucks. Sicher ist: Der Status quo ist keine Option mehr für die Zukunft. Bei der Gestaltung zukunftsfähiger Ernährungssysteme müssen eine Vielzahl zentraler Aspekte berücksichtigt werden. Dazu gehören Menschenrechte, Armut, Perspektivenlosigkeit, Beschäftigung, faire Handelsbeziehungen und lokale Auswirkungen des Klimawandels. Aus ökologischer Sicht sind besonders Treibhausgasemissionen, die Biodiversität und die chemische Belastung von Natur und Produktionsgrundlagen von Bedeutung.

Ernährungssicherheit: zwei neue Dimensionen

Für die Vereinten Nationen koordiniert der Welternährungsausschuss (UN Committee for Food Security, CFS) mit einem hochrangigen Fachgremium (High Level Panel of Experts on Food Security and Nutrition, HLPE_FSN) den Dialog zwischen Wissenschaft und Politik. Das Gremium hat zahlreiche Studien zum Thema erarbeitet und die Notwendigkeit der Transformation der Ernährungssysteme im Bericht «Global Narrative on Food Security and Nutrition towards 2030» festgehalten.1

Die Expertinnen und Experten haben darin die Situation der Ernährungssicherheit erfasst und sich mit Handlungsmöglichkeiten für deren nachhaltige Verbesserung auseinandergesetzt. Die Fachleute haben schliesslich vorgeschlagen, die vier traditionellen Dimensionen der Ernährungssicherheit (Verfügbarkeit, Zugang, Verwendung und Stabilität [Resilienz]) mit zwei weiteren zu ergänzen, die Mensch und Umwelt besser erfassen. Hinzu kommen deshalb Nachhaltigkeit und die Befähigung der Menschen, sich selbständig für eine quantitativ und qualitativ genügende Ernährung zu entscheiden (Agency). Die ökologische Dimension und insbesondere die Klimaveränderungen weisen dabei die grössten, schwer umkehrbaren Defizite auf. Der Welternährungsausschuss tut sich mit den beiden neuen Dimensionen noch schwer, zumal damit grosse Erwartungen an die Verbesserung der Lage der Schwächsten verknüpft sind.

Empfehlungen hochgradig klimarelevant

Der Bericht des Fachgremiums legt grosses Gewicht auf die Gesundheit der Menschen und auf den Einbezug des gesamten Ernährungssystems, also von der Produktion bis zum Konsum. Weitere Schwerpunkte sind das Grundrecht auf Nahrung und ein besserer Zugang für die Ärmsten. COVID-19 und die Versorgungskrisen als Folge der Schwarzmeerblockade zeigten die grossen Defizite bezüglich Ernährungssicherheit für die Menschen im globalen Süden besonders deutlich auf. Ausserdem sollen agrarökologische Prinzipien den neuen ökologischen und sozioökonomischen Rahmen für die Nahrungsmittelproduktion und den Markt bilden. Diese Prinzipien zielen einerseits auf mehr Resilienz der Ernährungssysteme gegenüber dem fortschreitenden Klimawandel ab. Es geht dabei um den Schutz von zentralen ökologischen Ressourcen wie Wasser und Boden. Andererseits tragen agrarökologische Praktiken zur Verringerung der Treibhausgasemissionen bei, vor allem durch die Erhöhung der organischen Substanz im Boden und durch die Verringerung des Einsatzes synthetischer Düngemittel. Die auf Konsensbasis erarbeiteten Empfehlungen des Welternährungsausschusses sind darum hochgradig klimarelevant.

Zum Beispiel die Schweiz

Doch wie liesse sich das Schweizer Ernährungssystem insbesondere klimaverträglich transformieren? Hierzulande ernähren sich 8.8 Millionen Konsumierende mit einem hohen Anteil an tierischen Proteinen. Das Schweizer Ernährungssystem produziert ausserdem viel Food Waste und verfügt insgesamt über einen ökologischen Fussabdruck, der weit über dem Weltdurchschnitt liegt. In diesem Zusammenhang bedeutet Transformation also, mit geänderten Konsummustern den Fussabdruck und die Belastung des Klimas zu reduzieren. Gemäss der EAT-Lancet Commission wirkt sich eine ökologisch nachhaltige Ernährung auch positiv auf die Gesundheit aus.2

Die weitgehend bäuerlich strukturierte Landwirtschaft ist verhältnismässig hilfsstoff- und kraftfutterintensiv und hat negative Folgen für die Biodiversität, das Klima, die Bodenfruchtbarkeit und die Wasserqualität. Obwohl die langjährigen agrarökologischen Anstrengungen bemerkenswert und teils vorbildlich sind, bleibt der ökologische Fussabdruck zu hoch. Wenig hilfreich ist der selbstauferlegte Zwang, mindestens die Hälfte der konsumierten Nahrungsmittel im Inland produzieren zu wollen. Zielführender wäre ein umfassendes Konzept der Ernährungssicherheit. Dabei hiesse Transformation in erster Linie, den Einsatz von Hilfsstoffen und Kraftfutter zu reduzieren. Wiederkäuer sollten grundsätzlich graslandbasiert gefüttert werden.

Beim Import von Nahrungsmitteln wurden grosse Anstrengungen gemacht. Nicht nur der Preis sondern auch ökologische und soziale Faktoren gewinnen an Bedeutung, obwohl die geltenden internationalen Handelsregeln immer noch eng ausgelegt werden. Kompromisse entstehen zwischen der Förderung der ökologischen Produkte im Inland und der Bevorzugung derselben Standards im Import mit Zollpräferenzen. Transformation bedeutet gleichwohl eine Erhöhung der ökologischen und sozialen Standards bei den Importen, was letztlich Treibhausgasemissionen im Ausland senkt.

Die Schweizer Verarbeitungsbranche ist teils global und exportorientiert und teils rein auf den Binnenmarkt ausgerichtet. Bemerkenswert sind die Bemühungen, pflanzliche Alternativen zu tierischen Proteinquellen zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Ausserdem gibt es vermehrt Anstrengungen, nachhaltiges Einkaufen durch Klimalabels zu erleichtern.

Die Schweizer Politik hat erkannt, dass in der Agrarpolitik Ernährungsfragen stärker berücksichtigt werden müssen. Die Behörden orientieren sich bei der Transformation des Ernährungssystems an internationalen Standards. Allerdings sind die Prozessabläufe zwischen Ämtern, Bundesrat und Parlament noch zu wenig harmonisiert. Dies ist jedoch nicht nur hierzulande so. Dasselbe gilt für die Science-Policy Interfaces und Plenarversammlungen bei der UNO.

Fazit: Sektorübergreifende, politische Massnahmen sind wichtig

Ernährungssysteme stehen in komplexer Wechselwirkung mit wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Systemen. Der Klimaschutz und die Massnahmen zur Anpassung an den Klimawandel sind dabei eng mit agrarökologischen und sozialökonomischen Prozessen verbunden und sind darum ein integraler Teil der Gesamtlösung. Politische Massnahmen, die auf transformative Änderungen abzielen, müssen diese vielfältigen Zusammenhänge berücksichtigen und sektorenübergreifend angelegt sein.

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Bernard Lehmann ist Präsident der Plattform Wissenschaft und Politik der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT) und Vorsitzender des Fachgremiums für Ernährungssicherheit und Ernährung (High Level Panel of Expert for Food Security and Nutrition, HLPE-FSN) des Ausschusses für Welternährungssicherheit der Vereinten Nationen (UN Committee World Food Security and Nutrition). Der Agrarökonom war 20 Jahre ordentlicher Professor an der ETH Zürich und war von 2011 bis 2019 Direktor des Bundesamts für Landwirtschaft.

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Referenzen

[1] Global Narrative on Food Security and Nutrition towards 2030 (2020) fao.org/3/ca9731en/ca9731en.pdf

[2] Food in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems (2019) thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(18)31788-4/fulltext

Verkäufer am St. José Slow Food Market in Rio de Janeiro: Die Expertinnen und Experten legen grosses Gewicht auf die Gesundheit der Menschen und auf den Einbezug des gesamten Ernährungssystems von der Produktion bis zum Konsum.
Verkäufer am St. José Slow Food Market in Rio de Janeiro: Die Expertinnen und Experten legen grosses Gewicht auf die Gesundheit der Menschen und auf den Einbezug des gesamten Ernährungssystems von der Produktion bis zum Konsum.Bild: FAO/Giuseppe Bizzarri

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